Zwei Männer mit einer Leiter…

…gehen in der Dunkelheit an der Straße entlang. Ihre Silhouetten zeichnen sich an den von Straßenlaternen in orange getauchten Wänden ab. Es ist etwas später geworden als vermutlich beiden lieb war. Richtig spät war es nicht, aber schon dunkel. Eigentlich hätte es der darauffolgende Samstag werden sollen aber der Wetterbericht hatte Regen angekündigt. Also ist dank eines prallen Gleitzeitkontos doch Donnerstag Spätnachmittag geworden – in der Hoffnung, bei der Arbeit noch ein wenig Sonnenlicht zu haben. Die (teilweise vergebliche) Suche nach Werkzeug hat etwas Zeit gekostet, bis alles vor Ort vorbereitet war, setzte die Dämmerung bereits ein. Schließlich wurde die Leiter an die Wand gestellt und die Taschenlampe zwischen die Lippen geklemmt. Es sollte hier und jetzt passieren.

„Nicht mehr weit“ sage ich zu Dustam*, als wir nur noch 30 Meter von der Hofeinfahrt meiner Wohnung entfernt sind. Er schultern noch einmal um – mit der Zeit werden knapp 5 Meter Aluminium doch etwas schwer. „Jetzt links“. Wir lehnen die Leiter wieder an die Haus. Dieses mal allerdings an das meines Vermieters. Ich räume sie auf, nachdem das restliche Werkzeug abgeholt wurde. Davor wurde aber noch einmal überprüft, ob vor Ort alles funktioniert.

Eigentlich habe ich Höhenangst, die schon bei einer ungesicherten Tür im ersten Obergeschoss anfängt. Im 1,5ten Obergeschoss arbeite ich einhändig. Die eine Hand macht die Arbeit, die andere hängt entweder an der Leiter oder an der Wandhalterung. Einen Sturz selbst würde der Griff zwar nicht vermeiden, jedoch die Gefahr des Kippens verringern. Zudem vermittelt er zumindest das leichte Gefühl der Sicherheit.

Meine Höhenangst – oder vielmehr die Angst vor dem Fallen – ist aber nichts im Vergleich zu den Ängsten, die diejenigen durchstehen mussten, für die ich hier an der Wand des dreieinhalb-stöckigen Hauses vermutlich ziemlich dämlich aussehend hänge. 7 Monate waren sie unterwegs. Über 5000 Kilometer haben sie überwunden. Was sie alles erlebt haben wage ich nicht zu fragen – möchte keine Wunden aufreißen. Wir sitzen landesübich auf dem Boden, trinken Tee, essen ein paar Kekse und Nüsse. Dustams jüngster Sohn wurde in Griechenland geboren. Sie haben oft im Wald geschlafen und in Mazedonien Löwen gesehen. Ob sein 7-jähriger Sohn damit nicht eher Luchse meint?

Ihr Deutsch ist noch nicht so gut, für ein halbes Jahr Crashkurs aber schon ganz ordentlich. Ihre Kinder – auch von der Familie einen Stock höher – sind sehr wissbegierig. Obwohl sie erst zum Halbjahr in die erste Klasse eingeschult wurden, haben sie die anderen in den meisten Fächern schnell überholt. Ihre Lehrer wollten sie sogar schon in die zweite Klasse vorrücken lassen, entschieden sich aber aber dagegen, um Ihnen sprachlich ein bisschen mehr Zeit zu geben. Nicht ganz – eine Tochter ist trotz der nur halben ersten Klasse vorgerückt, sie war Klassenbeste in Mathe. Durch ihre Mitschüler, dem Unterricht und auch ihrem Alter ist für sie die der Einstieg neue Sprache etwas leichter.

Die kurze Pause ist vorbei. Ich klettere wieder auf die Leiter. Löse ein paar Schrauben, versuche durch das Piepen aus dem geöffneten Fenster schlauer zu werden. Der Lärm der vorbeifahrenden Autos machen es nicht einfacher. Der Nachbar kommt nach Hause, bietet seine Hilfe an. Ich lehne – typisch deutsch – dankend ab. Kurze Zeit später stehe ich vor seiner Haustür – er öffnet das Fenster schaut hinunter und wundert sich (vermutlich nicht). „Ich glaube der LNB ist durch, ich bekomme nichts rein“. Kurze Zeit später steht er am offenen Fenster, ich hänge wieder in bekanntem Klammergriff an der Hauswand und werde sehr zielgerichtet in die richtige Position dirigiert. „80 %, das reicht – Sie können jetzt die Schrauben anziehen“. Um einen Nagel in die Wand zu schlagen, ist ein Hammer das geeignete Werkzeug – ich komme mir ein wenig vor als hätte ich mit einem krummen Stück Holz die ganze Wand um den Nagel fleckig geklopft. Ich mache wie mir geheißen und bin ziemlich froh, dass es dann doch so schnell geklappt hat. Knapp erwische ich den Herren noch, um mich bei ihm zu bedanken. Es hätte sonst vermutlich noch lange gedauert, wenn vorher nicht doch die Resignation vor einem vermeintlich defekten Low Noise Block eingesetzt hätte.

Der Sendersuchlauf füllt die Liste, während wir ein weiteres Glas Tee zu uns nehmen. Die Kanne saugt immer wieder leise pfeifend Luft ein, vermutlich ist sie nicht mehr ganz so voll. Ihr Inhalt ist sehr schmackhaft, auch wenn sich hier viele über dessen Zubereitung wundern dürften: dass Tee durchaus mit einem Schluck Milch getrunken wird, ist vor längerer Zeit von England zu uns übergeschwappt. Dass das Verhältnis von Wasser und Milch auch umgekehrt gut funktioniert – probiert es einfach mal aus.

Wofür Flüchtlinge Fernsehen brauchen, wollte ein Kollege vor ein paar Tagen von mir wissen, nachdem ich von meinem Vorhaben erzählte. „Um besser Deutsch zu lernen“, war meine spontane aber vielleicht auch etwas naive Antwort. Ob das deutsche Fernsehprogramm noch seinen Bildungsauftrag erfüllt, sei in Zeiten von Scripted Reality und „SCHREI-MICH-NICHT-SO-AN“-TV mal dahingestellt, mein Argument war aber scheinbar valide genug. Um ehrlich zu sein, es geht sicherlich auch um Zeitvertreib. Was soll man auch machen, wenn man längere Zeit Daheim (oder eher zu Hause?) herumsitzen muss. Wenig später erzählt mein Kollege, dass im Heimatort seiner Eltern eine größere Anzahl Asylsuchende untergebracht würde und einer von ihnen eines Tages auf dem Balkon eines Freundes stand (und weitere sich im Bad eingefunden hatten, wozu ich nur sagen kann: [citation needed]). Das Beste fällt einem natürlich immer erst danach ein: „die Flüchtlinge ‚brauchen‘ Fernsehen, damit sie nicht auf fremde Balkons klettern müssen“. „Um nicht von der Welt abgeschnitten zu sein“ galt übrigens auch. Gewisse Ängste kann ich verstehen, aber ich halte es für gänzlich falsch, von Einzelfällen auf viele oder gar alle zu schließen.

40 %. Wir beschließen, schon einmal aufzuräumen. Als wir fertig sind, zieht auch der Receiver nach. Mission erfüllt. Ich verabschiede mich und alle bedanken sich mehrfach. Schließlich werde ich für einen anderen Tag noch zum Essen eingeladen.

Ein paar Tage später komme ich noch einmal vorbei, das beim ersten Einsatz noch Material gefehlt hat. Ich schließe den gespendeten Receiver der oberen Wohnung an die Flimmerkiste an. Er startet und gibt ein Bild aus, allerdings farbverzerrt, gleichzeitig bleiben alle Sender stumm, was nicht am Fernseher lag. Ein Zurücksetzen der Einstellungen hat in solchen Fällen selten geschadet, ein manueller Neustart sollte die Aktion abschließen. Beim erneuten Einschalten drang der bekannte aber ungeliebte Geruch verschmorter Elektronik in meine Nase: „Abstecken!“. Zum Glück blieb es nur beim Geruch. Gleichzeitig bin ich „froh“ dass sich das Gerät nicht mitten in der Nacht zur Rauchbombe entwickelt hat. Ich frage mich, ob der Spender nicht einfach seinen Elektroschrott loswerden wollte. Schlussendlich habe ich meinen alten SAT-Receiver da gelassen. Bei dem weiß ich, dass er funktioniert und benötigt wird er hier auch nicht mehr.

Im Bezug auf Fernsehen bekam ich auch noch gleich einen Brief in die Hand gedrückt – mit der Frage, ob das gut sei. Der Briefkopf ist der des ÖR-Beitragsservice, ich male mir bereits den nun nötigen Papierkrieg aus. Aber nein: gute Nachrichten: unsere Flüchtlinge sind von den Rundfunkgebühren befreit. Bleibt zu hoffen, dass das auch so bleibt.

Wir sitzen noch ein wenig zusammen, trinken Tee und wir schauen uns ein paar Fotos an, die in den etwas ruhigeren Momenten der Flucht und bei uns in der Stadt entstanden sind. Auf letzteren sieht man ihre Kinder lachend. So soll es bleiben.

*) Name geändert